Mittwoch, 29.05.2024
Ivo Kügel
Ivo Kügel

Unser Grundgesetz

heißt sehr sinnvoll so. Denn es ist ein Fundament, eine Basis zum Aufbau, aber kein Fertighaus mit Hausmeister- und Lieferservice plus Abfuhr von Altlasten (wie sie zum Entstehungszeitpunkt und noch lange erdrückend bestanden). Aber der Grund ist stabil und kann die Konstruktion von Regeln für das Zusammenleben an die Werte von Menschenwürde, Freiheit und Verantwortung binden. Das ist die Statik. Was das noch so optimierte Grundgesetz jedoch nicht kann, ist die Belebung einer
gesellschaftlichen und politischen Dynamik, die erst aus Wünschen Wirklichkeit macht.
Jahrzehntelang lief das demokratische mit dem wirtschaftlichen Wachstum parallel. Wo letzteres
hakte, quittierte das Wahlvolk mit jäher Rechtswendung, was aber nach jeweiligen Aufschwüngen
bald wieder vergessen wurde. Nun aber hat sich diese Reaktion verstetigt. Denn die Krisen häufen
und überlagern sich: Pandemie, Krieg, Klimawandel, Migration, Inflation, Nullwachstum etc - in
einer Atmosphäre von Bildungsmisere und Verrohung der Diskussionskultur. Selbst die widerliche
und totgeglaubte Verirrung des Antisemitismus wuchert wieder.
Dem setzt unsere Politik geradezu masochistisches Verhalten entgegen mit einer unverträglichen
Mischung aus Illusion und Starrsinn, Realitätsverlust und Narzissmus, Hilflosigkeit und Arroganz,
Lethargie und Hektik - bei kommunikativen Totalausfällen der Hauptdarsteller. Da muss eine
Fundamentalopposition gar nicht selbst arbeiten, kann sich reichlich blamieren und dennoch ernten,
wofür sie nicht zu säen brauchte.
Und so wird erschreckend deutlich, dass unsere Demokratie wohl auf schönes Wetter angewiesen
ist und Eintrübungen mit Verlust von Engagement verbunden sind, weil eben vielen Menschen
ungestörte Sicherheit mehr gilt als verantwortete Freiheit. Das ist ja nicht nur hier so, sondern ein
weltweiter Trend. In China wie in den USA belächeln zielstrebige Intellektuelle unsere Werte und
saugen Honig aus den Schriften von Carl Schmitt und noch mehr Leo Strauss. Da geht es um
Ordnung und Einheit, ewige Werte und klare Hierarchien, Führende und Folgende - gute
Aussichten für Ehrgeizige und Opportunisten.
Demokratie aber ist auf den uneigennützigen Einsatz der Menschen angewiesen. Klar hat es der
Verfassungsrechtler Böckenförde formuliert: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von
Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann." Und wenn die nun fehlen? Wir sollten doch
wissen, wie schnell aus Enttäuschung Resignation wird, gefolgt von Kapitulation vor brutaler
Stärke. Ist unsere Schwäche nicht geradezu eine Einladung für Aggressoren, seien sie mit dem Ziel
militärischer oder ökonomischer Dominanz da mobil, wo wir in kleinlichen Konflikten erstarren?
So mühselig es auch ist, wir müssen Glaubwürdigkeit zurückgewinnen. Wir verspielen sie täglich
durch neue Verirrungen von Regelwut und Bürokratie, durch die Kluft zwischen in Vorurteilen
befangenen Menschen „im Lande“ und selbstgerechten Funktionären in der abgehobenen Welt,, in
der Machterhaltung auch da noch erstrebenswert zu sein scheint, wo sie nur noch rudimentär im
aufgeblähten Selbstzweck der Administration zu haben ist.
In einer Zeit totaler Katastrophe hat das Grundgesetz Gestalt angenommen durch den Wagemut
seiner Väter und (wenigen) Mütter. Diesen Mut brauchen wir wieder, um die Qualitäten unserer
Verfassung zu verteidigen, die sonst manchem Menschen erst nach ihrem Verlust deutlich werden
könnte. Wir müssen die 146 Artikel des Grundgesetzes stetig lebendig halten und verwirklichen.
Sonst reicht nämlich ein sehr viel kürzeres Gesetz, das da heißt: Macht geht vor Recht.
Ivo Kügel